7.

In »Unterm Birnbaum« aber phantasierte er die Gestalt des freundlichen Mörders aus, den man harmlos-gutartig zu nennen versucht wäre, lernte man ihn nicht schon bald als Urheber einer raffiniert geplanten Untat kennen. (…) In der Literatur zu »Unterm Birnbaum« ist sogar die Meinung vertreten worden, die Novelle endete künstlerisch überzeugender, wenn dieser Mörder (…) unentdeckt geblieben wäre.

(Helmuth Nürnberger, Nachwort zu ›Unterm Birnbaum‹, dtv 12372, S. 148)

 

 

Gunnar Schneeganß saß am Schreibtisch und war sauer auf sich. Das lag an diesem verdammten Schulz. Einerseits hätte er dessen Verbleib gern geklärt, denn er hasste ungelöste Fälle und litt unter dem Zwang, alles, was er begonnen hatte, erfolgreich zu Ende zu bringen, andererseits war es ihm menschlich zutiefst egal, was aus diesem Kotzbrocken geworden war. Es gab durchaus Opfer, deren Schicksal ihn aufwühlte, aber Schulz gehörte bestimmt nicht dazu. Die Sache ganz einfach ad acta zu legen, wagte er nicht, denn einige Boulevardblätter hatten geradezu ein Preisausschreiben unter dem Motto ›Wo steckt Schulz?‹ gestartet und hielten die Sache am Köcheln, und immer wieder riefen Leute an, die ›zweckdienliche Hinweise‹ anzubieten hatten und auf die ausgelobten 25.000 Mark scharf waren. Besonders aktiv waren die Menschen zwischen Frohnau und Oranienburg, denn gängige Lesart war, dass Schulz in den knapp 30 Minuten nach seinem Start am ›à la world-carte‹ auf seinen Mörder gestoßen sein musste. Man stellte sich das so vor, dass der am Straßenrand gestanden und gewinkt hatte. Es musste ein Bekannter oder eine Bekannte gewesen sein, denn einen Fremden hätte Schulz ganz sicher nicht in seinem Porsche mitgenommen. Oder vielleicht doch, wenn es eine attraktive Frau gewesen war? Er soll ja kein Kostverächter gewesen sein und sogar einige Bordelle besitzen. Wer selber gerne Kriminalromane geschrieben hätte oder Tatort-Kommissar geworden wäre, konnte sich hier einmal so richtig austoben. Schneeganß hasste solche Leute, und auch Gisbert Hinz liebte sie nicht, weil sie ihm seine dienstliche Freizeit stahlen. Vor allem hätten sie diejenigen Hinweisgeber am liebsten auf den Mond geschossen, die auch noch so unverschämt waren, sie in ihrer Dienststelle aufzusuchen. Man erkannte sie schon an ihrem aggressiven Klopfen.

»Nein, keiner da!«, rief denn auch Schneeganß und ließ einen Knurrlaut folgen.

»Ich höre Sie doch«, kam es von draußen.

Da es eine weibliche Stimme war, ließ sich Schneeganß erweichen, ein gnädiges »Ja, bitte« folgen zu lassen. Die junge Frau, die daraufhin hereinkam, war durchaus angetan, seinen Flirtreflex auszulösen, und sogar Gisbert Hinz, dem der Gedanke an die körperliche Liebe ansonsten eher Angst und Schrecken einjagte, starrte gebannt auf das, was unter dem hellen Sommerkleid zu erkennen war.

»Bin ich hier richtig?«, fragte die junge Dame, die alles andere als schüchtern schien.

»Bei mir sind Sie immer richtig«, antwortete Schneeganß. »Aber ich bin leider im Dienst …«

»Bleiben Sie das auch mal rund um die Uhr. Mein Name ist Vanessa Sauer, und ich komme wegen der Sache da oben in Frohnau …«

»Wunderbar«, sagte Schneeganß. »Nehmen Sie Platz. Sie sind die Spur Nummer 200, herzlichen Glückwunsch.«

Hinz hatte das Gefühl, den Kollegen bremsen zu müssen. »Entschuldigung, aber wir sind etwas genervt, weil durch die ausgesetzte Belohnung viele Anrufe kommen, die in den Papierkorb gehören.«

Schneeganß verzog das Gesicht, denn falscher konnte ein Bild nicht sein, besann sich aber auf die Würde, mit der er sein Amt auszuüben hatte. »Schön, Frau Sauer, wenn Sie so nett sind, uns in kurzen Worten darzulegen, was Sie zu uns geführt hat …«

Vanessa tat es nüchtern und ohne jede Phrase, sodass es sogar auf Schneeganß Wirkung zeigte.

»Sie meinen also, dass sich die Herren Schulz und Klütz furchtbar gehasst haben, und dass Klütz nach der Attacke durch Ihren Freund, hinter der er natürlich Schulz vermutet hat, zum Gegenangriff geblasen hat?«

 »Ja, für mich ist Sandra Schulz durchaus ein Motiv.«

Schneeganß verfluchte Menschen, bei denen es zur Sucht geworden war, Krimis zu sehen, zu hören und zu lesen. Irgendwie deformierte das, und sie konnten nicht mehr anders, als anzunehmen, dass jeder Konflikt in einer Mordtat endete.

Andererseits … Als Vanessa gerade gegangen war, sah er nachdenklich zum Berliner Himmel hinauf.

»Was meinst du denn, Gisbert, haben wir in Karsten Klütz einen neuen Tatverdächtigen?«

»Ja, leider.« Hinz sah schon eine Menge Arbeit auf sich zukommen. »Denk nur mal an den Anruf dieser Nachbarin, dieser Laubach, die hat ebenfalls Klütz im Visier gehabt.«

»Das ist es ja, was mich stutzig werden lässt«, sagte Schneeganß und wiederholte dann den Lieblingsreim seines ersten Ausbilders. »Es ist nichts so fein gesponnen, ’s kommt doch alles an die Sonnen.«

»Da müsste dieser Klütz aber ganz schön fein gesponnen haben«, sagte Hinz. »Ein Fußballer …«

»Die werden immer intelligenter, lass mal.«

»So intelligent, dass sie herausbekommen, wann einer von wo los will und wohin er fährt?«, fragte Hinz, konnte aber in seinem Gedankengang nicht fortfahren, weil es in seinem Kopf gepiekt hatte. »Au!« Er presste die linke Hand gegen die Schläfe.

»Das wird nur ein kleiner Schlaganfall sein«, sagte Schneeganß. »Du hattest heute noch keinen. Eine Gehirnblutung schließe ich mal aus, da bist du erst letzte Woche dran gestorben.«

»Mit so etwas spaßt man nicht!«

»Womit denn sonst bei dir? Aber vielen Dank für deine Vorlage. Ich nehme den Ball mal auf … Also: Klütz hält sich auf seinem Baugrundstück auf und bekommt mit, dass Schulz drüben bei seinem Neffen ist. Die beiden unterhalten sich draußen im Garten, und Klütz hört ganz deutlich, dass Schulz am nächsten Morgen ganz früh zur Ostsee hoch will. Daraufhin fährt er, Klütz, nach Frohnau hinaus, stellt sich auf der Brücke an den Straßenrand und wartet, bis Schulz vorbeikommt. ›Wir müssen mal über alles reden. Kann ich ein Stück mitkommen?‹ Klütz steigt ein – und irgendwo zwischen Frohnau und Oranienburg tötet er Schulz. Motiv Sandra, wie wir eben gehört haben. Kein schlechtes Szenario – oder?«

Hinz hatte immer noch mit seinen Kopfschmerzen zu tun. »Ich weiß nicht … Meinst du, der Schulz wäre so dumm beziehungsweise so leichtsinnig gewesen, anzuhalten und den Klütz mitzunehmen?«

»Schon, aber …« Schneeganß lachte und ließ seiner Fantasie freien Lauf. »Vielleicht hat er sich die Sache auch viel einfacher gemacht und den Schulz getötet, als der im Gästehaus nebenan ganz friedlich geschlummert hat.«

»Ja, und der tote Schulz ist dann morgens in seinen Wagen gestiegen und losgefahren!«, höhnte Hinz.

»Warum nicht?«, fragte Schneeganß. »Für diesen Fall haben wir schließlich unsere beiden Möglichkeiten: 1) den Doppelgänger, 2) den als Schulz verkleideten Klütz.«

Hinz winkte ab. »Ach!«

»Wieso? In diesen Zeiten ist alles möglich.«

»Willst du damit zum Chef gehen?«, fragte Hinz. »Wir machen uns doch lächerlich damit.«

»Irgendwann macht sich jeder einmal lächerlich«, sagte Schneeganß. »So ist das Leben eben. Jedenfalls kann uns niemand Untätigkeit vorwerfen, wenn wir den Medien nun Klütz als mutmaßlichen Täter zum Fraß vorwerfen.«

»Ein bisschen Butter müsste aber noch bei die Fische«, sagte Hinz.

Schneeganß überlegte. »Am schönsten wäre es ja, wenn man in dem Zimmer, in dem Schulz übernachtet hat, etwas von Klütz finden würde, ein Haar, einen abgebrochenen Fingernagel, ich meine, etwas, auf das die DNA-Fuzzies alle abfahren.«

 

*

 

Karsten Klütz hatte keine Begabung zum Songtexter und Sänger, sonst hätte er Daniel Powters ›Had a bad day‹ vorweggenommen, denn dieser 4. August 1998 sollte wirklich ein fataler Tag für ihn werden.

Es begann damit, dass er gegen 6 Uhr von einem gewaltigen Rums geweckt wurde. Es hörte sich an wie ein Erdbeben. Das aber konnte für Berlin ausgeschlossen werden, sogar in den Zeiten des Klimawandels. Dann musste ein Flugzeug abgestürzt sein. Seine Wohnung lag ja in der Tempelhofer Einflugschneise. Er stellte die Info-Welle des rbb ein und erfuhr, während er sich die Zähne putzte, dass ganz in seiner Nähe in der Lepsiusstraße ein viergeschossiges Wohnhaus eingestürzt war, wahrscheinlich nach einer Gasexplosion. Die Trümmer hätten mehrere Menschen unter sich begraben. Er schüttelte sich. Ein fürchterlicher Gedanke, verschüttet zu sein.

Vor dem Frühstück trat er auf den Balkon, um seine Blumen zu gießen. Schließlich war er gelernter Gärtner und wusste, dass man seine Pflanzen in den frühen Morgenstunden wässern musste, weil da am wenigsten Wasser verdunstete. Er hatte die schönsten Balkonblumen weit und breit, und manchmal fragte er sich, ob er nicht glücklicher sein würde, wenn er bei seinem erlernten Beruf geblieben wäre, anstatt Fußballprofi zu werden. Schuster, bleib bei deinen Leisten … Ihm gegenüber auf dem Friedhof begannen seine Berufskollegen ihr Tagewerk. Mit einer Friedhofsgärtnerei verdiente man nicht schlecht, und mit einer Landschaftsgärtnerei noch besser. Nein, es waren keine Gärtner, die dort an der Mauer zur Fehlerstraße hin am Werke waren, sondern Totengräber. Die nächste Erdbestattung lag an. Für wen wohl?

Allein zu frühstücken, war noch immer eine Qual für ihn. Was hatte es früher stets für einen Trubel gegeben. ›Leon, hör auf, dir einen ganzen Liter Milch auf deine drei Cornflakes zu gießen!‹ – ›Leonie, iss bitte ein bisschen schneller, du musst in drei Minuten los zur Schule.‹ – ›Rebecca, du musst nicht noch staubsaugen, bevor du ins Büro gehst, wir kriegen heute keinen Besuch!‹ Bei Rebecca musste alles immer sauber und ordentlich sein, sonst bekam sie ihre Krise. Und da er es eher etwas schlampig liebte, hatte sie zuletzt dauernd ihre Krise bekommen. ›Ordnung ist das halbe Leben‹, hatte einmal ein Sportjournalist über ihn geschrieben. ›Aber für die andere Hälfte steht Karsten Klütz: für das Überraschende, das Kreative.‹

Jetzt tauchte sein Name im kicker nicht mehr auf, und auch in der Berliner Fußball-Woche nur noch selten und ganz weit hinten. Obendrein meist mit negativem Touch, wie bei seiner letzten Roten Karte. Als schlechtes Vorbild für die Jugend wurde er hingestellt, als jemand, der auch noch seine letzten Sympathien verspielte.

Beim Kaffeetrinken las er die Sportteile der fünf Tageszeitungen, die er sich gestern gekauft hatte. Als Spielerberater musste man schließlich wissen, wer wo angesagt war. Es war schmerzlich, dass auch hier niemand über ihn wenigstens eine einzige Zeile verlor. Bei Berlin United spielte ein Psychologe, und der hatte ihm zu einer Therapie geraten. ›Du leidest unter einer narzisstischen Unersättlichkeit, und wenn du nichts dagegen tust, wirst du immer verbitterter werden.‹ Rebecca hatte das mitbekommen und gesagt, noch verbitterter ginge nicht mehr.

Alles Quatsch. Er war durchaus ein fröhlicher Mensch, wenn man ihn so akzeptierte, wie er war, Sandra hatte das bewiesen.

Klütz ging hinunter zu seinem BMW und machte sich auf den Weg nach Frohnau, um den Bauleuten auf die Finger zu sehen. Anschließend hatte er oben in Wedding einen Termin mit einem jungen Spieler, den er unter Vertrag nehmen wollte.

Als er vor seinem Grundstück stand, fiel ihm nur ein Standardsatz seines Vaters ein: Still ruht der See. Es war kurz vor 9 Uhr, und noch immer hatte sich kein Handwerker eingefunden. Wahrscheinlich hatte die Baufirma einen lukrativeren Auftrag an Land gezogen und ihre Leute dort beginnen lassen. Klütz fluchte laut und griff zum Handy, um den Architekten zu beschimpfen. Da dies ein alter Bekannter von ihm war, brauchte er kein Blatt vor den Mund zu nehmen. In seiner Erregung hielt es Klütz nicht auf einer Stelle, er musste auf und ab gehen, und da sich ihre Unterredung ein wenig in die Länge zog, kam er dabei am Zaun der Laubach vorbei, die gerade dabei war, ihre Rosen zu beschneiden.

»Das sind alles Arschlöcher!«, schrie Klütz. »Was, du kannst denen nicht verbieten, dass sie …? Ach, fick dich ins Knie!«

Der Laubach fiel fast die Gartenschere aus der Hand, als sie das vernahm.

»Das ist ja unerhört!«, rief sie. »Und so etwas zieht nach Frohnau! Der Pöbel hat hier nichts zu suchen, bleiben Sie in Neukölln, mein Herr!«

»Halt’s Maul, alte Hexe!«, knurrte Klütz. »Ist das ein Scheißtag heute!«

Und der wurde nicht besser, als Klütz in einem Café in der Nähe des Leopoldplatzes Dhalak gegenübersaß, 17 Jahre, fast U18-Nationalspieler, Vater aus Eritrea, Mutter aus dem tiefsten Wedding, kein Hauptschulabschluss, aber mit einem Selbstbewusstsein, als sei er Beckenbauer und Pelé in einer Person. Widersprach ihm Klütz, kniff er die Augen zusammen, als wollte jeden Augenblick das berühmte ›Ich mach dich urban!‹ kommen, was heißen sollte: ›Ich schlag dich gleich so zusammen, dass du ins Urban-Krankenhaus eingeliefert werden musst.‹

»Dhalak, wenn du in die Bundesliga willst und später nach England, Italien oder Spanien, kann das dein Vater nicht mehr managen, dann brauchst du einen Profi als Berater.«

»Wen haben Sie denn nach Mailand vermittelt, äih?«

Klütz dachte zwar: Mein Lieber, dein Glück, dass wir beide nicht auf’m Platz stehen und gegeneinander spielen, denn sonst würdest du dich jetzt schon wimmernd am Boden wälzen! Er behielt aber die Nerven und lächelte. »Wenn ich schon zehn Spieler nach Mailand vermittelt hätte, würde ich nicht nur die paar lumpigen Prozente haben wollen, die du mir geben willst.«

Dhalak stand auf. »Ruf mich an, wenn du Real so weit hast, dass sie mir ’n Angebot machen.«

»Real Madrid oder real, die vom Supermarkt?«

»Du kriegst gleich ’n paar aufs Maul, du Arsch!« Damit verließ der Jungstar das Café.

Klütz blieb sitzen und zahlte das, was sie gegessen und getrunken hatten. Zweifel stiegen in ihm auf, ob er für einen Spielervermittler der richtige Typ war. War er zu hart, war er zu weich, wusste er zu viel vom Fußball oder zu wenig? Vielleicht war es doch besser, er machte irgendwo am Stadtrand eine Gärtnerei auf. Sandra konnte dann mit ihrer Modeschau in seine Gewächshäuser kommen. Er zog sein Handy aus der Tasche, um mit ihr über alles zu reden.

»Du, ich kann im Augenblick nicht.«

Dass sie so kurz angebunden war, traf ihn wie ein Fausthieb. »Was ist denn?«

»Ich bin gerade in einer Besprechung.«

Das konnte nicht stimmen, denn auf ihrem Terminkalender hatte er gelesen, dass sie an diesem Dienstag erst um 14 Uhr eine Besprechung hatte. »Habt ihr die verlegt?«

»Wieso verlegt? Ja, haben wir.«

»Schade.« Klütz suchte mit seiner Enttäuschung fertigzuwerden. »Dann sehen wir uns heute Abend.«

»Heute Abend bin ich mit Ramona verabredet.«

»Ach so …« Klütz schluckte, denn er wusste aus seiner Ehe, dass eine plötzliche Verabredung mit der besten Freundin immer ein Alarmzeichen war. Die Sache war klar: Sandra traf sich mit einem anderen Mann, und Ramona war dazu da, ihr ein Alibi zu verschaffen. »Und morgen?«

»Mal sehen, ich sag dir Bescheid. Tschüss dann.«

Ehe Klütz etwas erwidern konnte, hatte Sandra aufgelegt. Minutenlang saß er wie erstarrt da. Kein Zweifel, sie war dabei, ihn fallen zu lassen. Warum nur, und warum so plötzlich? War wirklich ein anderer Mann im Spiel oder hatte sie dadurch, dass Schulz verschwunden war, wieder zu ihm zurückgefunden? Oder unterstellte sie ihm, Klütz, womöglich, er hätte ihren Mann aus dem Weg geräumt? Er hörte sie zu Ramona sagen, dass sie mit einem Mörder unmöglich zusammenleben könne.

Klütz tröstete sich mit der alten Herberger-Weisheit, dass jedes Spiel 90 Minuten dauert, und in seinem war ja noch nicht abgepfiffen worden. Auch ein 0:3 ließ sich noch aufholen. Nein. Er hatte eine Vorahnung, dass das 0:4 und 0:5 bald folgen würden.

Er verließ das Café mit schlurfenden Schritten und fuhr zurück nach Friedenau. Als er in der Stubenrauchstraße aus dem Wagen stieg, verließ gerade eine schwarze Trauerschar den Friedhof. In der Grube, die von den Arbeitern am Morgen ausgehoben worden war, ruhte nun ein glücklicher Mensch. Glücklich deswegen, weil er erlöst war von allem.

Im Briefkasten lag ein Brief des Bezirksamtes. Noch auf der Treppe riss er ihn auf. Das Jugendamt teilte ihm mit, dass ihm auf Antrag der Anwältin seiner Frau der Umgang mit seinen Kindern bis auf Weiteres untersagt sei, da seine zunehmende Gewaltbereitschaft die Entwicklung von Leon und Leonie gefährde und seine mangelnde Impulskontrolle zur Sorge Anlass gebe, er könnte sie misshandeln.

»Noch eine Rote Karte«, murmelte Klütz. Es war perfide, ihm zu unterstellen, er würde mit den Kindern so umgehen wie mit seinen Gegnern auf dem Fußballplatz, aber natürlich hatten sich Rebecca und ihre Anwältin diese Vorlage nicht entgehen lassen.

Klütz war in der Stimmung, aus dem Fenster zu springen oder sich sonst wie umzubringen, so unerträglich war sein Zustand. Doch er war nicht der Typ zum spontanen Suizid, er war eher jemand, der sich in sein Schicksal ergab. Wenn man verlor, verlor man eben, und wenn der Schiedsrichter einen Elfmeter gegen einen verhängte, obwohl man den Gegenspieler, der sich vor Schmerzen am Boden krümmte, überhaupt nicht berührt hatte, nahm man das gottergeben hin. Das Einzige, was er sich nach deftigen Niederlagen erlaubte, war eine Vollnarkose, das heißt, er trank so lange, bis er umfiel und alles vergaß. Meist begann er mit Bier, dann folgten die härteren Sachen.

Er hatte gerade die erste Flasche ausgetrunken, da klingelte es an der Wohnungstür. Er fuhr hoch. Sandra? Doch noch. Hatte er sich also geirrt. Er lief zur Gegensprechanlage, nahm den Hörer ab, rief sein übliches »Ja, bitte …?« und hoffte, ihre Stimme zu hören. »Du …?«

»Nein: Ich. Kriminalpolizei.«

Klütz wusste sofort, was das bedeutete: Sie kamen in der Sache Schulz. Jemand hatte ihnen einen Tipp gegeben, entweder jemand aus Frohnau, Wiederschein oder diese fürchterliche Nachbarin, oder Rebecca und ihre Anwältin. Vielleicht auch Sandra selbst. Er drückte auf den Türöffner. »Kommen Sie rein …«

Die Kriminalbeamten kamen die Treppe herauf und stellten sich vor. Klütz fand sie beide nicht berauschend. Der Jüngere, der auf den komischen Namen Schneeganß hörte, schien ihm auf den ersten Blick ein arrogantes Arschloch zu sein, und der Ältere, Hinz, ein dementer Schluffi.

»Wir sind wegen Schulz bei Ihnen«, begann Schneeganß, als sie am Wohnzimmertisch Platz genommen hatten. »Sie kennen Siegfried Schulz?«

Klütz gab sich gleichmütig. »Sandras Mann, natürlich.«

»Und wie gut kannten Sie ihn?«

»Vom Sehen, aus der Ferne sozusagen.«

»Vom Sehen, aus der Ferne sozusagen«, wiederholte Hinz.

»Ja.« Klütz verstand nicht, was daran so besonders sein sollte.

Schneeganß legte seinen ersten Trumpf auf den Tisch. »Und Sie waren nicht in der Nacht vor seinem Verschwinden bei Schulz im Gästehaus des ›à la world-carte‹?«

Klütz zuckte zusammen. Die Schlinge legte sich um seinen Hals. Was sollte er machen: den Beamten die Wahrheit sagen oder alles abstreiten?

Die Wahrheit hätte sich wie folgt angehört: ›Ja, ich war in der Nacht vor seinem Verschwinden bei Schulz drüben im Gästehaus des ›à la world-carte‹. Als ich auf meinem Grundstück war, um den Baufortschritt zu überprüfen, habe ich gesehen, wie ihm Wiederschein sein Zimmer gezeigt hat. Ich bin erst einmal nach Hause gefahren, habe mich aber mächtig gelangweilt, weil Sandra in Mailand war. Da bin ich ein zweites Mal nach Frohnau gefahren, um mit Schulz zu reden. In aller Ruhe und unter vier Augen. Unser Gespräch muss so zwischen 1 und 2 Uhr nachts stattgefunden haben. Wir haben uns eigentlich prima verstanden, nur eines wollte Schulz nicht: Sandra freigeben. Schließlich bin ich wieder nach Hause gefahren. Fürchterlich enttäuscht, und irgendwie habe ich ihn auch gehasst, aber passiert ist nichts.‹

Diese Wahrheit schien Klütz aber zu riskant zu sein, sodass er sich dafür entschied, alles abzustreiten.

»Nein, natürlich war ich nicht bei Schulz. Wozu denn auch? Dass er Sandra nicht freigeben würde, war von vornherein klar.«

Hinz hakte nach. »Sie behaupten also, in der Nacht vor seinem Verschwinden nicht bei Schulz im Gästehaus des ›à la world-carte‹ gewesen zu sein?«

»Das ist doch lächerlich, dass Sie mir den Mord an Schulz anhängen wollen!«, rief Klütz. »Nur weil ich von Haus aus Gärtner bin und der Gärtner immer der Mörder ist.«

»Wieso reden Sie von Mord?«, fragte Schneeganß. »Schließlich ist Schulz am Morgen quietschvergnügt und höchst lebendig in seinem Porsche davongefahren.«

Klütz verstand nun gar nichts mehr und fühlte sich mächtig ausgetrickst. »Aber warum sind Sie denn hier …?«

»Weil wir Haare von Ihnen im besagten Zimmer von Schulz gefunden haben«, erklärte ihm Hinz. »Wie kommen die wohl dahin?«

Klütz hatte einen seiner genialen Momente: »Na, ganz einfach: Weil ich mit Sandra zusammen war, und die mit Schulz im selben Haus in Wannsee gewohnt hat, da überträgt sich das eben.«

 

*

 

Gunnar Schneeganß behauptete von sich, ein lebender Lügendetektor zu sein, und so schwor er Stein und Bein, genau zu wissen, dass Klütz gelogen hatte.

»Natürlich war er bei Schulz im Zimmer.«

»Und warum sollte er lügen?«, fragte Hinz.

»Weil wir ihn damit überführen können«, erwiderte Schneeganß. »Ein Motiv hat er, am Tatort war er.«

Hinz stand auf, um sich eine Tasse zu holen, schrie aber nach dem ersten Schritt so theatralisch auf wie ein tödlich getroffener Krieger bei den Karl-May-Festspielen. »Mein Fuß! Das wird ein Ermüdungsbruch sein.«

»Quatsch«, sagte Schneeganß. »Dir haben sie schon vor drei Jahren das Bein amputiert, wegen deiner Krampfadern damals, da kann nichts mehr brechen. Das ist der Phantomschmerz, nichts weiter.«

»Höchstens meine Arthrose.« Hinz humpelte durch den Raum.

»5,6 für den technischen Wert, 6,0 für die künstlerische Note«, sagte Schneeganß.

Hinz goss sich seinen Kaffee ein und kehrte schlurfend wie immer an seinen Schreibtisch zurück. »Du scheinst dich richtig auf diesen Klütz eingeschossen zu haben. Aber wie soll er Schulz ermordet haben, wenn der morgens … und so weiter.«

»Das ist der Knackpunkt, in der Tat …« Schneeganß dachte nach. »Bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder Klütz hat mit einem Doppelgänger gearbeitet, oder er hat sich als Schulz verkleidet …«

»Wo soll er so schnell einen Doppelgänger herbekommen haben?«, fragte Hinz.

»Dann ist er selbst als Schulz davongefahren, etwa dieselbe Figur haben sie ja, hatten sie ja.«

»Traust du ihm so viel … na, sag mal … Dingsda zu?«

»Chuzpe? Ja. Klütz ist der Mittelfeldregisseur alter Schule, und da muss man kreativ sein. Und die nötige Portion an Aggressivität hat er obendrein, siehe seine vielen Roten Karten.« Das hatte er bereits eruiert.

»Und, was willst du nun weiter machen?«, fragte Hinz.

»Angreifen«, erklärte Schneeganß. »Als wir Wiederschein für den Mörder von Schulz gehalten haben, haben wir in seinem Garten nach der Leiche gesucht, und wenn wir jetzt Klütz für den Täter halten, dann müssen wir logischerweise auf dessen Grundstück suchen.«

 

*

 

Rainer Wiederschein liebte es, sich in der ruhigen Zeit zwischen 15 und 17 Uhr zu einer kleinen Pause zurückzuziehen und oben im Schlafzimmer ein kleines Nickerchen zu machen. Unten in der Küche kam Mohamadou allein mit allem klar.

Angela Wiederschein war den ganzen Tag nicht aufgestanden, weil ihr wieder einmal ihre Migräne mächtig zusetzte. Sie stöhnte nur leise, als sich Wiederschein neben ihr niederlegte.

Er war gerade eingenickt, als ihn lautes Hundegebell hochfahren ließ. Dazu hörte er Stimmen mehrerer Männer. In der Annahme, dass sich auf der Terrasse seines Restaurants ein heftiger Streit angebahnt hatte, lief er zum Fenster.

»Was ist denn?«, fragte Angela.

»Keine Ahnung.« Er trat auf den kleinen Balkon hinaus. »Nichts bei uns unten. Dann kann es nur bei Klütz drüben sein …« Wiederschein wandte sich zum Mansardenfenster, von wo aus man den besten Blick hinüber hatte. Was er dort sah, ließ ihn verstummen.

»Was ist denn?«, fragte seine Frau.

»Ich glaube, das ist die Kripo mit Suchhunden …«

»Gott!« Angela Wiederschein sprang aus dem Bett. »Dann werden sie gleich kommen und uns mitnehmen.«

»Quatsch!«, rief Wiederschein. »Wir sind doch aus dem Schneider, jetzt suchen sie da drüben, weil sie Klütz in Verdacht haben, Schulz …«

»Rainer, wir können nicht zulassen, dass ein Unschuldiger …!«

»Natürlich können wir.« Wiederschein war so gelassen, als ginge es lediglich darum, ob man einem Gast recht geben sollte, der schimpfte, dass die Trüffel auf seinem Filet nicht echt, das heißt, nicht aus Frankreich seien, sondern unecht und aus China. »Wir haben ja keine Todesstrafe mehr, und um Klütz tut es mir nicht leid, wenn der ein paar Jahre aus dem Verkehr gezogen wird. Die arme Sandra ist für diesen Dumpfmeier viel zu schade.«

 

*

 

Schneeganß hatte schon etliche Lokaltermine mitgemacht und staunte, wie gelassen Klütz das Anrücken der LKA-Leute erwartete. Selbst das Gebell der Suchhunde schien ihn völlig kaltzulassen. Wahrscheinlich hatte ihn das Dasein als Fußballprofi abgehärtet. Wer einen Elfmeter verwandeln konnte, wenn 50.000 gegnerische Fans ihn mit ihrem infernalischen Geschrei zu stören versuchten, den konnte auch eine solche Szene nicht erschüttern.

Die Hunde brauchten nicht lange, um etwas zu wittern. An der Garage begannen sie, wie wild zu scharren. Man riss sie zurück und fing zu graben an, erst mit Spaten, dann mit großen Schaufeln, mit denen sich mit jedem Schwung eine Menge Erde aus der Grube heben ließ. Der Boden war noch locker, und die Männer waren schnell in einer Tiefe von zwei Metern angekommen.

»Hier ist nichts!«, schrien sie nach oben.

»Aber die Hunde …« Schneeganß trat an die Grube. »Zu vermuten ist ja, dass Schulz vergraben worden ist, bevor man die Grundplatte der Garage gegossen hat. Vielleicht können Sie uns da weiterhelfen, Herr Klütz?«

»Nein, wie denn?«

Die LKA-Leute maulten etwas. »Sollen wir vielleicht die ganze Garage abreißen?«

»Ich möchte das nicht aus meiner eigenen Tasche bezahlen«, sagte Hinz. »Wir sollten uns erst mal absichern.«

Schneeganß zog sein Handy heraus und telefonierte mit seinem Vorgesetzten. »Traut man den Hunden, liegt unter der Garage wirklich etwas. Aber deswegen alles abreißen …?«

Man beriet sich noch eine Weile, dann wurde entschieden, eine Tiefbaufirma zurate zu ziehen und zu versuchen, von unten an den Toten heranzukommen, wenn denn dort wirklich einer liegen sollte. »Die sagen, sie könnten alles so abstützen, dass die Garage nicht einstürzen wird.«

Es dauerte eine Weile, bis die Goyatz Bau mit ihren Geräten und einem Tieflader mit Brettern, Balken und Eisenträgern angerückt war. Schneeganß, Hinz und Klütz setzten sich inzwischen auf die Terrasse des ›à la world-carte‹ und tranken etwas.

Wiederschein kam heraus, um sie zu begrüßen. »Von hier hat man einen so wunderbaren Blick auf die neue Grabung, dass ich Eintritt nehmen sollte. Vielleicht findet man diesmal einen Soldaten aus dem 30-jährigen Krieg, einen aus Wallensteins Lager.«

»Der verströmt keinen Aasgeruch mehr, da wären die Hunde nicht so närrisch«, sagte Hinz.

Wiederschein lachte. »Wer bei mir noch etwas essen möchte, gerne …« Dann wandte er sich an Klütz. »Wie geht es meiner, ja: Tante?«

»Sandra?«

»Frau Schulz, ja …«

Schneeganß ging dazwischen. »Tut mir leid, aber …«

»Pardon! Ich wollte wirklich nicht …« Wiederschein zog sich wieder zurück.

Dass die Suchaktion so lange dauern würde, hätte Schneeganß nicht erwartet. Als er die Bauarbeiter fragte, ob es nicht etwas schneller ginge, bekam er die Antwort, ob er vielleicht verschüttet werden möchte.

Um die Zeit totzuschlagen, fragte Hinz den Kellner, ob er ihnen Skatkarten leihen könne.

Schneeganß verzog das Gesicht, denn inzwischen waren jede Menge Polizeireporter herbeigeeilt, und man konnte unmöglich mit einem mutmaßlichen Mörder Karten spielen. Inzwischen hatte sich die Sache herumgesprochen, und Schneeganß zählte mehr Schaulustige als bei ihrer Grabung in Wiederscheins Garten. Menschen lebten von ihren kleinen Geschichten, und das hier war etwas, was man bei jeder Party und Geburtstagsfeier mit leuchtenden Augen erzählen konnte: ›Ich war dabei, als man Schulz’ Leiche unter der Garage hervorgeholt hat.‹ Siebenhaar und seine Kollegen hatten wieder alle Mühe, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.

Schneeganß ließ Klütz in der Obhut von Hinz auf der Terrasse zurück und sah sich im Garten des Baugrundstücks um. Der Maschendrahtzaun zu Wiederschein hin war alt und an vielen Stellen durchlöchert. Dort eine Leiche hindurchzubugsieren, war sicherlich kein Kunststück, zumal der Garten von Klütz gut einen halben Meter tiefer lag. Und dass man hier in der Nacht zwischen 1 und 4 Uhr beobachtet wurde, war äußerst unwahrscheinlich. Klütz hatte also in aller Ruhe ans Werk gehen können. Nachdem er Schulz vergraben hatte, war Zeit genug, sich zu säubern und die Sachen des Opfers anzuziehen. Natürlich durfte er sich beim Aufbruch frühmorgens in kein Gespräch mit Wiederschein und dessen Personal einlassen, aber alle hatten ja ausgesagt, der angebliche Schulz sei am Morgen wortlos zu seinem Porsche gegangen, ohne zu frühstücken und groß Abschied zu nehmen. Schneeganß konnte sich genau erinnern, was Wiederschein zu Protokoll gegeben hatte: ›… Dann ist er einfach an uns vorbei, furchtbar missgestimmt …‹ Klar, wenn jemand Verdacht geschöpft hätte, nicht den echten Schulz vor sich zu haben, wäre Klütz’ Spiel schnell vorbei gewesen. So würde man den Autohändler überall suchen, nur nicht auf seinem Grundstück … Dann aber war die Laubach gekommen und hatte den Verdacht auf Wiederschein gelenkt, was Klütz sicherlich zupassgekommen war, anfangs zumindest. Damit, dass sie ihn wenig später selbst auf dem Kieker haben würde, hatte er nicht rechnen können, ebenso wenig damit, dass Schulz mit Kurzrock eine Art Killer auf ihn angesetzt hatte und dessen Freundin deswegen zur Polizei gehen würde, er also plötzlich ins Fahndungsraster geriet. Das war alles so logisch, dass Schneeganß sein Vermögen darauf gewettet hätte, dass Klütz den Autohändler in der fraglichen Nacht umgebracht und auf seinem Grundstück vergraben hatte. Dann hatte er sich dessen Sachen angezogen, war als falscher Schulz mit dem Porsche Richtung Oranienburg gefahren, hatte den Wagen im Kanal versenkt und war anschließend mit der Bahn nach Berlin zurückgekehrt.

Zufrieden ging Schneeganß auf die Terrasse zurück.

Als es 19.30 Uhr geworden war, erschien Sandra Schulz im ›à la world-carte‹ und begrüßte erst Wiederschein, dann Schneeganß und schließlich Klütz.

»Das ist ja ein schrecklicher Verdacht «, sagte sie.

Hinz konnte nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken. »Für uns ist das alles Routine.«

In diesem Moment rief einer der Bauarbeiter vom Nachbargrundstück herüber, dass jetzt alles ausreichend abgestützt sei und man weitermachen könne.

»Okay, wir kommen!«, rief Schneeganß.

Für die beiden Hunde hatte man eine kleine Rampe angelegt. Als sie die Sohle der Grube erreicht hatten, sprangen sie hoch und versuchten, den Sand unter der Garage mit ihren Vorderpfoten zur Seite zu scharren. Die Hundeführer zogen sie weg, und die LKA-Leute machten sich wieder mit Spaten und Schaufel ans Werk, diesmal aber wesentlich vorsichtiger als am Nachmittag.

Kurz vor Sonnenuntergang schrie einer: »Aufpassen, da is was!« Und nun dauerte es keine fünf Minuten mehr, bis man Schulz gefunden hatte.

Seine Frau wurde, von Hinz und Wiederschein gestützt, zur Grube geführt, denn Schneeganß wollte so schnell wie möglich die letzte Gewissheit darüber haben, dass sie wirklich den Richtigen gefunden hatten.

»Ja, er ist es«, hauchte Sandra Schulz. Dann sank sie zusammen und musste ins Dominikus-Krankenhaus gebracht werden.

Schneeganß legte seine Hand auf Klütz’ rechten Arm. »Sie sind vorläufig festgenommen. Wir unterhalten uns morgen früh etwas ausführlicher über alles.«

 

*

Karsten Klütz waren erst gegen 4 Uhr morgens die Augen zugefallen. Kämpfen oder kapitulieren – diese Entscheidung hatte ihn nicht einschlafen lassen. Die eine Stunde trug er voller Empörung alle Argumente zusammen, die für seine Unschuld sprachen, die andere wieder ließ er sich fallen und dachte mit dem Vaterunser: Dein Wille geschehe. Wenn die Welt ihn als Mörder sehen wollte, war er machtlos dagegen. Er hatte sich mit einem Virus angesteckt, gegen das es noch kein Mittel gab, dem Mördersein-Virus. In den Momenten, in denen er logisch denken konnte, fragte er sich, wer denn Schulz wirklich ermordet und unter seiner Garage vergraben hatte: Sandra selbst, Wiederschein oder ein unbekannter Dritter? Der Trick, sich Schulz’ Sachen anzuziehen und als er höchstpersönlich in seinem Porsche davonzufahren, war gewiss genial, und es wäre sicherlich ein perfekter Mord geworden, wenn man ihn, Klütz, verdächtigt und auf seinem Grundstück nach Schulz gesucht hätte. ›Wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt, bleibt dumm.‹ Er hatte oft genug mit seinen Kindern die Sesamstraße gesehen, als dass ihm dieses Liedchen nicht durch den Kopf gegangen wäre. Aber auf die Fragen, die er sich stellte, gab es keine Antworten. Außer der vielleicht, dass die Menschen Gewissheit brauchten und ihn deshalb zum Mörder machten, wenn dabei auch jegliche Logik flöten ging. Andererseits, er schrie es gegen die Wände seiner Zelle: »Mein Gott, ich war es doch nicht!« Dann wieder hatte er genau vor Augen, wie er Schulz getötet hatte: Er hatte ihm das dicke, flauschige Kissen, das auf dem Sessel neben dem Bett gelegen hatte, auf Mund und Nase gedrückt. Daran hatte er bei ihrem Gespräch wirklich immer wieder gedacht. Es war zu verlockend gewesen. Und da er an der Leiche, als sie Schulz unter seiner Garage hervorgezogen hatten, kein Blut gesehen hatte, nichts, was auf eine Schuss-, Stich- oder Schlagverletzung hingewiesen hätte, war er automatisch davon ausgegangen, dass man Schulz wirklich mit diesem Sofakissen erstickt hatte. »Man …? Du warst es, du selbst, du verdrängst es nur!« Es kamen Minuten, da war er überzeugt davon, Schulz tatsächlich ermordet zu haben. Anschließend schlug er mit dem Kopf gegen die Wand, wieder und wieder, und schrie: »Nein, ich war es nicht, ich war es nicht!« Das ging so lange, bis er eine sonore Stimme hörte: »Doch, du warst es, gib es endlich zu!«

Innerlich derart zerrissen und fürchterlich überdreht, saß er dann Schneeganß und Hinz gegenüber. Schneeganß eröffnete das Spiel mit einem Zug, der Klütz ziemlich überraschte, denn er trug ihm seine Hypothese so vor, als sei es schon die Anklageschrift.

»Sie sehen, wir spielen mit offenen Karten, Herr Klütz«, schloss er nach etwa einer Minute. »Und Sie haben nun die Chance, mich in allem zu widerlegen.«

Klütz fühlte sich überfahren und konnte nur stammeln, wo er denn anfangen solle?

»Na, vielleicht mit dem, was wir gleich abhaken können, weil es unstrittig ist«, riet ihm Hinz, der ihm offenbar wesentlich mehr Sympathien entgegenbrachte als Schneeganß. »Dass Sie Sandra Schulz wirklich lieben und mit ihr ein neues Leben anfangen wollten …«

Klütz nickte. »Ja, das wollte ich.«

»Aber Schulz stand Ihnen im Wege?«

»Ja.«

Schneeganß schaute interessiert auf seine Fingernägel. »Er konnte Sandra nicht loslassen …?«

»Ja.« Mehr wollte Klütz zu diesen Fragen nicht einfallen, und er kam sich vor wie ein Hilfsschüler, der nicht bis drei zählen konnte.

Schneeganß, so kam es Klütz vor, schien nur eines im Sinn zu haben: Die Sache möglichst schnell zu Ende zu bringen. Und so kam er übergangslos zur Frage des Alibis.

»Herr Klütz, zur Tatnacht. Kurz vor Mitternacht ist Schulz zum letzten Mal gesehen worden, der wirkliche Schulz. Da ist er vom Restaurant nach hinten ins Gästehaus gegangen. Eingeschlafen sein wird er spätestens gegen 1 Uhr. Und um 5 Uhr ist der falsche Schulz zu seinem Porsche gegangen. Die Tat muss also zwischen 1 und 4 Uhr begangen worden sein. Können Sie uns bitte sagen, wo Sie sich zu dieser Zeit aufgehalten haben?«

Klütz überlegte lange. Was sollte er sagen? Er wusste, dass er in der Falle saß und keine Chance mehr hatte.

»Sie haben recht mit den Haaren«, begann er.

»Welchen Haaren?«, fragte Hinz.

»Meinen Haaren, die man bei Schulz im Zimmer gefunden hat.«

»Oh!« Schneeganß war plötzlich wieder interessiert. »Sie geben also zu, bei Schulz im Gästehaus gewesen zu sein.«

»Ja. Ich war erst zu Hause und bin später noch mal nach Frohnau gefahren, um mit ihm zu reden. Dass er Sandra freigeben soll.«

»Und?«, fragte Hinz. »Hat er?«

»Nein.« Klütz merkte, dass das die falsche Antwort war, und korrigierte sich schnell. »Doch.«

»Was denn nun?«, fragte Schneeganß.

»Erst hat er nicht wollen, schließlich aber doch, und ich bin dann wieder nach Hause.«

»Als er tot war?«, wollte Schneeganß wissen.

»Nein, als er noch höchst lebendig war!«, rief Klütz, nun wieder zum Kämpfen bereit.

»Und wie kommt es dann, dass wir ihn gestern unter Ihrer Garage gefunden haben?«, fragte Schneeganß.

»Was weiß ich!«, rief Klütz.

Hinz beugte sich vor. »Wie ist denn das Gespräch mit Schulz so gelaufen?«

Klütz suchte sich zu erinnern. »Eigentlich ganz ruhig und sachlich.«

»Klar«, höhnte Schneeganß. »Wo Sie doch dafür bekannt sind, nie die Nerven zu verlieren, weder auf dem Fußballplatz noch anderswo.«

»Bei den Roten Karten bin ich vorher immer provoziert worden«, sagte Klütz.

Schneeganß lachte. »Und Schulz hat Sie nicht provoziert, wie?«

»Doch, auch, aber …«

Schneeganß zog sich seinen Notizblock heran. »Dann schreibe ich einmal: Frage nach dem Alibi entfällt, da der Beschuldigte zugibt, zur Tatzeit am Tatort gewesen zu sein. Kommen wir also zum nächsten Punkt: Wie haben Sie denn Herrn Schulz …«

»Ich war es nicht, der ihm das Kissen auf Mund und Nase gedrückt hat!«, schrie Klütz.

Schneeganß und Hinz konnten es nicht fassen. Eine solche Steilvorlage war ihnen noch nie serviert worden.

»Ah, woher das Täterwissen?«, entfuhr es Hinz.

Klütz verstand sich selbst nicht mehr. Warum hatte er das gesagt? Nein, er hatte es nicht gesagt, es war gegen seinen Willen mit seiner Stimme gesagt worden. Da steckte etwas in ihm, das ihn zerstören, das ihn in den Knast bringen wollte.

»Nur der Täter kann wissen, wie Schulz zu Tode gekommen ist«, sagte Schneeganß.

Klütz realisierte, dass er in diesem Spiel gegen die Kripo aussichtslos mit 0:6 hinten lag. Und so waren die Tore gegen ihn gefallen: Das 0:1 – er hatte ein Motiv, das zwingend war. Das 0:2 – er hatte kein Alibi. Das 0:3 – er war zur Tatzeit am Tatort gewesen. Das 0:4 – er verfügte über ein Wissen, das nur der Täter haben konnte. Das 0:5 – er stand in dem Ruf, ein äußerst aggressiver Mensch zu sein. Das 0:6 – das Opfer war auf seinem Grundstück gefunden worden.

»Fehlt uns nur noch Ihr Geständnis, Herr Klütz«, sagte Schneeganß.

Klütz wusste, dass er am nächsten Tag in allen Medien sein würde – und das hatte er seit Jahren nicht mehr genießen können. Wenn er seine Geschichte exklusiv verkaufte, brachte das eine Menge Geld, und noch mehr, wenn er später vor Gericht sein Geständnis widerrief und den Beamten unlautere Verhörmethoden vorwarf, die an Psychofolter grenzten. Das war die eine Triebkraft, die andere und wohl viel stärkere war der Wunsch, sich fallen zu lassen und eine Auszeit vom Leben zu nehmen, sich ins Gefängnis zu flüchten wie in ein Kloster. Kein Kampf mehr um die Liebe einer Frau, kein Kampf mehr um das Recht, seine Kinder zu sehen, kein Kampf mehr, einen Spieler unter Vertrag zu nehmen und einen passenden Verein für ihn zu finden, sondern nur die Ruhe in der Zelle und das Gleichmaß aller Tage. Dass er sich im Knast schnell Respekt verschaffen würde, bei den Mitgefangenen wie dem Personal, daran zweifelte er keine Sekunde. Und ein Lebenslänglich würde es sicherlich nicht geben, wenn seine Verteidiger sich geschickt genug anstellten und auf Totschlag plädierten beziehungsweise auf Notwehr, weil Schulz ihn attackiert hatte. Er war sich voll bewusst, dass es eine Art Selbstmord war, was er da vorhatte, aber gerade das war es ja, was er wollte.

So senkte er schließlich den Kopf.

»Ja, ich war es.«